Besondere Pflichten öffentlicher Arbeitgeber bei der Bewerbung schwerbehinderter oder gleichgestellter Bewerber
Entschädigungsansprüche nach § 15 AGG schon bei versehentlichen Verstößen bzw. Übersehen einer Bewerbung und besonderer Hinweise auf Gleichstellung - BAG Urteil vom 23. Januar 2020 – 8 AZR 484/18
Das BAG hat mit Urteil vom 23. Januar 2020 – 8 AZR 484/18 – entschieden, dass für einen Entschädigungsanspruch nach § 15 AGG zwar eine Bewerbung dem Arbeitgeber zugegangen sein muss, eine tatsächliche Kenntnisnahme wird aber nicht vorausgesetzt, wenn unter gewöhnlichen Umständen die Möglichkeit der Kenntnisnahme bestand. Den eine Stelle ausschreibenden Arbeitgeber trifft nach Ansicht des BAG vielmehr die Obliegenheit, die nötigen Vorkehrungen für eine tatsächliche Kenntnisnahme zu treffen. Ansonsten kann der Zugang der Bewerbung nicht ausgeschlossen werden und gilt ungeachtet der Kenntnisnahme als erfolgt.
Bei dem dieser Entscheidung zugrundeliegenden Verfahren hatte sich der Bewerber mit E-Mail auf die in der Ausschreibung genannte E-Mail-Adresse beworben und im Anhang dazu darauf hingewiesen, dass er mit einem Grad der Behinderung von 30% einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt ist. Der Bewerber wurde nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen, weil seine Bewerbung nicht ausgedruckt worden war und deswegen nicht in den Geschäftsgang gelangt ist. Es wurde die Ansicht vertreten, dass mangels Kenntnis keine Benachteiligung entstanden sein könnte.
Das hat das BAG, wie geschildert, jedoch anders beurteilt.
Der Arbeitgeber könne zwar die vom Bewerber dargelegte Vermutung einer Benachteiligung dadurch widerlegen, dass er substantiiert vorträgt und beweist, dass er aufgrund besonderer, ihm nicht zurechenbarer Umstände des Einzelfalls nicht die Möglichkeit hatte, eine entsprechend § 130 BGB zugegangene Bewerbung tat-sächlich zur Kenntnis zu nehmen. Das war in dem zu entscheidenden Fall aber nicht rechtswirksam erfolgt.
Aber allein der Verstoß des öffentlichen Arbeitgebers gegen die Pflicht zur Einladung von schwerbehinderten und ihnen gleichgestellten Bewerbern zum Vorstellungsgespräch begründet noch keine einen Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG auslösende Benachteiligung i.S.v. § 7 AGG, sondern nur die vom Arbeitgeber widerlegbare Vermutung i.S.v. § 22 AGG einer Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung.
Die Widerlegung dieser Vermutung setzt jedoch den Nachweis voraus, dass die Einladung zu einem Vorstellungsgespräch aufgrund von Umständen unterblieben ist, die weder einen Bezug zur Behinderung aufweisen noch die fehlende fachliche Eignung des Bewerbers berühren.
Dieser Nachweis ist schwer zu erbringen.
Nach unserer Kenntnis ist das bisher nur in dem Verfahren, welches das BAG mit Urteil vom 20. Januar 2016 – 8 AZR 194/14 – entschieden hat gelungen, bei dem das BAG festgestellt hat, dass personalpolitische Erwägungen, die die Mitarbeiterzufriedenheit betreffen und eine nachhaltige Personalplanung zum Ziel haben, nicht sachwidrig sind, sondern geeignet sind, die Vermutung der Benachteiligung zu widerlegen.
Das beklagte Land hatte in diesem Fall die Entscheidung, Bewerber mit einer bestimmten Qualifikation - hier des höheren Dienstes - nicht zu berücksichtigen, auf personalpolitische Gründe gestützt, die die fachliche Eignung nicht betreffen. Zwar wurde aufgrund eines bestimmten Ausbildungsabschlusses eine Überqualifizierung festgestellt, die dagegen angeführten Erwägungen betrafen aber ausnahmslos Gründe der Personalpolitik, die die Mitarbeiterzufriedenheit und eine nachhaltige Personalplanung zum Ziel haben. Damit konnte die Benachteiligung mangels Einladung zum Vorstellungsgespräch wegen einer Schwerbehinderung widerlegt werden.
Öffentliche Arbeitgeber haben bei Stellenbesetzungen daher Folgendes zu beachten:
Nach Art. 33 Abs. 2 GG hat jeder Deutsche nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt.
Das bezieht sich nicht nur auf Stellen für Beamt/e/innen, sondern gilt ebenso auch für Beschäftigte nach Tarifvertrag oder sonstigen Regelungen
Daher sind Stellen im öffentlichen Dienst oftmals auszuschreiben und es ist ein überprüfbares Auswahlverfahren nach den Kriterien Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung durchzuführen.
Außerdem sind noch die Regelungen des AGG (= Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz) zu beachten:
Danach gilt das Benachteiligungsverbot nach § 7 AGG i.V.m. § 1 AGG schon ab der Stellenausschreibung, so dass die Stellenausschreibungen keine Diskriminierun-gen enthalten dürfen. Nach § 1 AGG sind „Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität verboten“ und deswegen unbedingt zu vermeiden.
Ansonsten können die danach benachteiligten Bewerber/innen Entschädigung nach § 15 AGG geltend machen.
Darüber hinaus ergeben sich für die Arbeitgeber im öffentlichen Dienst bei Bewerbern mit einer Schwerbehinderung oder ihnen gleichgestellten Personen zusätzli-che besondere Verpflichtungen.
Nach § 165 SGB IX sind schwerbehinderte Menschen, die sich um einen Arbeitsplatz eines öffentlichen Arbeitgebers beworben haben oder von der Bundesagentur für Arbeit oder einem von diesem beauftragten Integrationsfachdienst vorgeschlagen wurden, zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen.
Damit werden diese Bewerber bessergestellt als andere, weil sie im Vorstellungsgespräch die Chance erhalten sollen, die Arbeitgeber von ihrer Eignung zu überzeugen.
Nach § 2 Abs. 2 SGB IX sind Menschen mit einem Grad der Behinderung von mindestens 50 % schwerbehinderte Menschen im Sinne des Gesetzes.
Diesen schwerbehinderten Menschen werden auf Antrag der Betroffenen mit Be-scheid der Bundesagentur für Arbeit nach § 152 Abs. 2 SGB IX Menschen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50% aber mindestens 30 % gleichgestellt. Das bedeutet, dass für die so „Gleichgestellten“ die gleichen besonderen Regelungen gelten wie für schwerbehinderte Menschen.
Im Gegensatz zu den schwerbehinderten Menschen, die ihren Bewerbungen i.d.R. den Schwerbehindertenausweis beifügen, weisen diese Personen oft nur kurz auf ihre Gleichstellung hin und fügen den Bescheid der Agentur für Arbeit bei.
Da dies beim schnellen Durchsehen der Bewerbungen leicht übersehen werden kann, aber, wie erläutert, Entschädigungsansprüche nach § 15 AGG bei vergesse-ner Einladung zum Vorstellungsgespräch auslösen kann, ist auch darauf besonders zu achten.
Es gibt leider immer wieder Gerichtsverfahren wegen Entschädigungsansprüchen nach § 15 AGG mit denselben Klägern, denen es die Nachlässigkeiten der öffentlichen Arbeitgeber bei der Durchsicht und Auswertung von Bewerbungen und der daraus resultierenden Nichteinladung zum Vorstellungsgespräch ermöglichen ein Schutzgesetz als Einnahmequelle zu nutzen. In einschlägigen Kreisen werden solche oftmals bundesweit agierenden Kläger auch als „AGG-Hopper“ bezeichnet. In solchen Fällen kann der Eindruck entstehen, dass gesetzliche Möglichkeiten zu Lasten der Allgemeinheit gezielt für persönliche Vorteile eingesetzt werden. Dem kann bisher i.d.R. nur durch die vorgeschriebene Einladung zum Vorstellungsgespräch nach § 165 SGB IX von schwerbehinderten und gleichgestellten Bewerbern in allen Zweifelsfällen entgegengewirkt werden.
Besondere Aufmerksamkeit kann in diesem Zusammenhang geboten sein bei besonders umfangreichen Bewerbungen oder solchen mit vielen Anlagen sowie Be-werbungen von örtlich weit entfernt wohnenden Bewerbern.
Da das Übersehen der Gleichstellung seitens der Gerichte als Bezug zur Behinderung gewertet wird, können sich Arbeitgeber damit nicht entlasten.
Nach Ansicht der Rspr. kann auf Rechtsmissbrauch nicht bereits daraus geschlossen werden, dass eine Person eine Vielzahl erfolgloser Bewerbungen versandt und mehrere Entschädigungsprozesse geführt hat oder führt (vgl. dazu z.B. LAG Mecklenburg-Vorpommern Urteil vom 07 Januar 2020 – 5 Sa 128/19 –, Rdnr.99 ff.).
Das BAG hat sich im Urteil vom 26. Januar 2017 – 8 AZR 848/13 –, Rn. 123 – 126 mit dem Einwand des Rechtsmissbrauchs auseinandergesetzt. Aber auch danach ist es kaum möglich einen Rechtsmissbrauch erfolgreich nachzuweisen.
Umso wichtiger ist es, die eingehenden Bewerbungen sorgfältig zu bearbeiten.
Dabei sind der Zugang und die Kenntnisnahme der Bewerbungen mit den dafür vorgesehenen Fristen zu gewährleisten.
Bei der Durchsicht und Auswertung ist auf die besonderen Verpflichtungen der öffentlichen Arbeitgeber zu achten.
Schwerbehinderte und ihnen gleichgestellte Bewerber sind im Zweifel zum Vorstellungsgespräch einzuladen. Wenn Fahrtkosten nicht erstattet werden, muss in der Einladung darauf hingewiesen werden.
Wir bitten um Kenntnisnahme.
Abteilung 1.2 - Bü./Dr.R./Ju /Rau