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Besinnung auf das schwärzeste Kapitel der deutschen Geschichte

Am 27. Januar 2025 wurde in Bad Arolsen den Opfern des Nationalsozialismus gedacht. Die zentrale Gedenkveranstaltung für Hessen fand am Standort der Arolsen Archives in Nordhessen statt, dem weltgrößten Archiv über Opfer und Überlebende des Nationalsozialismus. Hier werden seit mehr als 75 Jahren Millionen von Akten gesammelt, digitalisiert und für Nachforschungen zur Verfügung gestellt. Ergänzt wird die Sammlung von Dokumenten durch Angebote für Forschung und Bildung, um das Wissen über die Nazi-Verbrechen in die heutige Gesellschaft zu bringen. Die gemeinsame Gedenkveranstaltung von Land Hessen, Landeswohlfahrtsverband und den kommunalen Spitzenverbänden wurde in diesem Jahr vom Hessischen Städte- und Gemeindebund ausgerichtet.

Landesweite Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus in Bad Arolsen_Gruppenbild
Präsident Markus Röder begrüßte bei der federführend vom HSGB organisierten Gedenkveranstaltung in Bad Arolsen viele Vertreter der Regierung, des Landtages, der kommunalen Familie, der Jüdischen Gemeinden, der Sinti und Roma in Deutschland und der christlichen Kirchen. (Foto: HSGB/Artur Worobiow)

Der 27. Januar erinnert an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz 1945, er ist zugleich ein Gedenktag für alle Opfer eines beispiellosen totalitären Regimes während der Zeit des Nationalsozialismus: Juden, Christen, Sinti und Roma, Menschen mit Behinderung, Homosexuelle, politisch Andersdenkende sowie Männer und Frauen des Widerstandes, Wissenschaftler, Künstler, Journalisten, Kriegsgefangene und Deserteure, Greise und Kinder an der Front, Zwangsarbeiter und die Millionen Menschen, die unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft entrechtet, verfolgt, gequält und ermordet wurden.

Hinter jedem Opfer steht eine Geschichte
Bürgermeister Markus Röder, Hofbieber, Präsident des Hessischen Städte- und Gemeindebundes, begrüßte rund 200 Gäste aus Politik, Gesellschaft und Religion im Bürgerhaus in Bad Arolsen. Röder wies auf die Bedeutung des 80. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz hin: „Wir blicken zurück auf das schlimmste Verbrechen gegen die Menschlichkeit: auf die Shoah, die Ermordung von sechs Millionen europäischen Jüdinnen und Juden, und auf das sinnlose Sterben von Millionen weiterer Menschen, die dem Terror der Nazis zum Opfer fielen: Wir gedenken der Sinti und Roma, der politisch, ethnisch oder religiös Verfolgten, der Homosexuellen, der Kranken und Behinderten, all derer, die die nationalsozialistische Ideologie zu Feinden erklärt und verfolgt hatte. Heute vor 80 Jahren: An jedem Jahrestag der Auschwitz-Befreiung gibt es weniger Überlebende, die ihre Erfahrungen weitergeben können. Die Generation der Opfer – wie auch der Täter – stirbt aus und mit ihr die persönlichen Bezüge zu diesem Abschnitt der deutschen Geschichte. Jedoch: Hinter jedem Opfer steht eine Geschichte, die nicht vergessen werden darf. Daher sind wir alle dazu aufgerufen, die Erinnerung lebendig zu halten, damit sich Auschwitz nicht wiederholt. Das sind wir den Opfern schuldig“, so Röder.

Solidarität mit jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern
Astrid Wallmann, Präsidentin des Hessischen Landtages, betonte die Notwendigkeit, nicht nachzulassen im Erinnern an die Verbrechen des NS-Regimes. Außerdem mahnte die Parlamentspräsidentin, das Bewusstsein für die permanente Gefährdung der Demokratie zu schärfen. So fragte Wallmann in ihrer Rede: „Welchen Wert soll das ebenso laute wie wohlfeile ‚Nie wieder‘ auf Straßen und im digitalen Raum überhaupt noch haben, wenn zeitgleich der reale Raum für jüdisches Leben in Deutschland immer enger und enger wird?“ Wallmann forderte zu Solidarität mit jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern auf, zudem zu einem entschiedenen Einschreiten gegen alle Formen des Antisemitismus sowie gegen jegliches antidemokratische und menschenverachtende Gedankengut.

Hinsehen und handeln
Für die Hessische Landesregierung sprach Ministerpräsident Boris Rhein. Er betonte in seinem Grußwort den bürgerschaftlichen Auftrag, der sich mit dem Gedenktag verbindet: „Der 27. Januar ist ein Appell an uns alle. Wir müssen uns gegen Hass und Hetze stellen und stark machen für Mitgefühl und Menschlichkeit. Es reicht nicht aus, nur zu reden. Wir müssen auch für unsere demokratischen Überzeugungen einstehen. Hinsehen und handeln – das ist die Maxime, die uns alle leiten muss“, sagte Rhein und ergänzte: „Jede und jeder Einzelne kann etwas tun. Jede und jeder Einzelne macht einen Unterschied. Wir müssen als demokratische Gesellschaft zusammenstehen.“
Floriane Azoulay, Direktorin der Arolsen Archives, betonte vor den anwesenden Gästen, dass die Erinnerung an die NS-Zeit vor gewaltigen Herausforderungen stehe. „Unsere Antwort liegt in der aktiven Auseinandersetzung mit Fragen der jungen Generation. Mit #everynamecounts und unserer digitalen Bildungsplattform schaffen wir Möglichkeiten, die Vergangenheit nicht nur zu erforschen und daran zu erinnern, sondern auch aktiv einen Beitrag zu leisten – im Kampf gegen Desinformation, Rassismus und Antisemitismus.“ Bei der Initiative #everynamecounts etwa helfen Zehntausende Freiwillige mit, Archiv-Dokumente der weltweit größten Sammlung zu Verfolgten des Nationalsozialismus zu digitalisieren.

„Jüdinnen und Juden haben Angst und dies ist eine Schande für unser Land!“
Die Gedenkrede in Bad Arolsen wurde von Staatssekretär Uwe Becker gehalten. Als Beauftragter der Landesregierung für Jüdisches Leben und den Kampf gegen den Antisemitismus setzt sich Becker für ein aktives und selbstbewusstes Jüdisches Leben in Hessen ein. Im Engagement gegen Antisemitismus und Judenfeindlichkeit gehört es zu den Aufgaben von Uwe Becker, die vorhandenen Initiativen der Landesregierung zur Bekämpfung des Antisemitismus zu bündeln, zu ergänzen und weiterzuentwickeln. In seiner Gedenkrede schlug Becker einen Bogen von Auschwitz zu den aktuellen antisemitischen Tendenzen nach dem 7. Oktober 2023 in Deutschland. Der 80. Jahrestag verlange das besondere Bekenntnis zur Fortdauer der Erinnerung an dieses Menschheitsverbrechen, das immer Teil der Deutschen Geschichte bleiben werde, so Becker. „Leider vollziehen wir dieses besondere Gedenken in einer Zeit, in der jüdisches Leben so bedroht in Deutschland und Europa ist, wie nie seit dem Ende der Shoah. Jüdinnen und Juden haben Angst und dies ist eine Schande für unser Land“, unterstrich der Staatssekretär. Er ging auf die Mahnung „Nie wieder“ ein. Auch wenn die demokratischen Strukturen in Deutschland heute stabil seien und Antisemitismus nicht von regierender Politik ausgehen würde, seien wir beim Judenhass doch längst bei einem „Schon wieder“ angekommen, konstatierte Uwe Becker. „Wenn wir schauen und hören, was auf Straßen, Wegen und Plätzen in Deutschland und Europa gezeigt und gesagt wird, muss uns dies aufwühlen und aufstehen lassen. Doch leider macht sich vielerorts eher Gewöhnung und Gleichgültigkeit breit, jene Zutaten des Antisemitismus, die den damaligen Weg in den zivilisatorischen Abgrund mit möglich gemacht hat“. Der Judenhass, so Becker, sei nicht in unserer vielfältiger gewordenen Gesellschaft aufgegangen, er sei selbst bunter und vielfältiger geworden und reiche vom rechtsextremistischen Antisemitismus, über den linksextremen Judenhass bis hin zu dem immer stärker werdenden israelbezogenen Antisemitismus.

Staffelstab an die nächsten Generationen
„Wir müssen einsehen, dass es um unsere gesamte Gesellschaft geht, um die Zukunft unserer Demokratie. Der Antisemitismus ist Seismograph für den Zustand unserer Gesellschaft. Deshalb müssen wir noch viel energischer gegen Judenfeindlichkeit vorgehen. Dies ist unser Auftrag, gerade wenn wir den 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz begehen“, so Becker abschließend.
Der Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus wurde vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog 1996 ins Leben gerufen. Für HSGB-Präsident Markus Röder war besonders die Anwesenheit von Schülerinnen und Schülern bei der Gedenkveranstaltung wichtig. Mit den zeitgemäßen Zugängen der Arolsen Archives kann ihnen die heutige Bedeutung der NS Verbrechen auf besondere Weise vermittelt werden. Der offizielle Teil der Gedenkveranstaltung endete schließlich mit einem Besuch der vor dem Bürgerhaus platzierten Freiluft-Ausstellung #StolenMemory, in deren Mittelpunkt sogenannte Effekten und deren Rückgabe an Angehörige von NS-Opfern stehen.