Ein Darmstädter Gespräch
Mit Ulrike SCHERF, der stellvertretenden Kirchenpräsidentin der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), sprach SCHELZKE über gemeinsame Perspektiven von politischen Gemeinden und evangelischen Kirchengemeinden im ländlichen Raum.
Das Gebiet der EKHN umfasst einerseits stark wachsende Regionen in Südhessen, Rheinhessen und Mittelhessen (Region um Gießen). Andererseits sind Regionen wie der Vogelsberg, der Odenwald, das Hinterland um Biedenkopf-Gladenbach und das Nassauer Land von starker Schrumpfung betroffen.
Vor zwei Jahren hat die EKHN unter der Leitung von SCHERF eine sogenannte Themenvisitation zur Frage „Herausforderungen in ländlichen Räumen“ durchgeführt. Eine Gruppe aus verschiedenen Kirchenakteuren hat 10 Orte im ländlichen Raum ganztägig besucht und u. a. mit kommunalen Vertretern, Vereinen, Unternehmern etc. intensive Gespräche geführt. Dabei wurden die Folgen des demografischen Wandels, die Zunahme von Armut, ökonomische Strukturschwächen, Mobilitätsprobleme, Leerstände, kommunale Infrastruktur wie die Breitbandversorgung und viele andere Herausforderungen angesprochen. Für Ulrike SCHERF war wichtig, dass in der Themenvisitation die persönlichen Perspektiven der Besucher wie auch ergänzende Erkenntnisse aus dem jeweiligen Fachgebiet (Regionalentwicklung, Familien- und Seniorenarbeit, etc.) in die Visitation eingeflossen sind. Vor allem die Begegnung mit den Menschen vor Ort gibt den strategischen Entscheidungen der Kirchenleitung eine praxisbezogene Grundlage.
Ein Ergebnis der Visitation war es, dass die evangelische Kirche sich der gesellschaftlichen Herausforderungen auf dem Lande noch stärker als bisher stellen will. Für die Kirchenvertreter stellte sich insgesamt die Frage, wie stark in Zukunft in die Gemeinwesenarbeit investiert werden soll.
HSGZ 07-08 2017 Darmstädter Gespräch
Unter den vielen Schlussfolgerungen der Visitationen überrascht der Fokus auf Dorfkirchen. Sie zu erhalten, ist nicht nur für die Gottesdienstgemeinde von hohem Belang. Die Dorfkirchengebäude sind außerdem oft ein starker Identifikationspunkt für die gesamte Kommune. In vielen Dörfern Hessens ist die Kirche nicht nur der Ortsmittelpunkt, sondern neben der Nutzung durch die Kirchengemeinde auch ein Ort für kulturelle Veranstaltungen und ein zentraler Versammlungsraum.
Gemeinwesenarbeit und Familienzentren
Aber auch andere Ergebnisse der Visitationen wie die Beteiligung der kirchlichen Ortsgemeinde an Prozessen der Dorf- und Regionalentwicklung, der Erhalt und Ausbau der Kinderbetreuung oder das gemeinsame Engagement von Kirche und politischer Gemeinde in bürgerschaftlichen Projekten wurden im Gespräch zwischen Ulrike SCHERF und Karl-Christian SCHELZKE gewürdigt.
Die EKHN hat in ihrer Gemeinwesenarbeit mit zwei großen Projekte begonnen:
DRIN (Dabei sein – Räume entdecken – Initiativ werden – Nachbarschaft leben) ist ein Programm ausgestattet mit insgesamt 3 Millionen Euro (2014-2019) und dient der sozialpolitischen Verbesserung der Wohn- und Lebensbedingungen. Unter den 27 Projektstandorten ist eine große Zahl im ländlichen Raum. SCHERF und SCHELZKE vereinbarten, ausgewählte Projekte in der Gemeinwesenarbeit den Mitgliedsstädten und Gemeinden des HSGB vorzustellen.
Ein weiteres gesellschaftliches mehrjähriges Großprojekt sind die 33 Familienzentren in der EKHN, in denen Bildung, Beratung, Erziehung, Kinderbetreuung und Begegnung der Bürgerschaft gebündelt werden. In den Zentren werden offene Spiel- und Krabbelgruppen, Kurse für Familien, offene Treffpunkte für Eltern sowie Erziehungs- und Lebensberatungsstellen vorgehalten.
Zuwanderung im ländlichen Raum
Das Thema, das politische und kirchliche Gemeinden in den letzten Jahren sehr beschäftigt hat, ist die Integration von Flüchtlingen im ländlichen Raum. Etwa 60 % der Kirchengemeinden in der EKHN sind in der Flüchtlingsarbeit aktiv. Dabei verkennen SCHERF und SCHELZKE in ihrem Gespräch nicht, dass die Geflüchteten eine extrem heterogene Gruppe darstellen - mit sehr unterschiedlichen Fluchtauslösern, Bleibeperspektiven, Bildungsständen und kulturellen Herkünften. Unter ihnen ist teilweise ein negatives Bild über den ländlichen Raum verbreitet. Deshalb ist der bevorzugte Wohnsitz die Großstadt oder die Metropolregion, in denen bereits etablierte Landsleute leben.
Die Planungssicherheit für die Kommunen steht hier den Freizügigkeitsrechten der anerkannten Flüchtlinge gegenüber. Die Wohnsitzauflage, die im neuen Integrationsgesetz aufgenommen worden ist, stellt für Karl-Christian SCHELZKE nur die Ultima Ratio da, zielführender sind für ihn Anreize für Flüchtlinge, sich im ländlichen Raum nieder zu lassen und den überforderten Ballungsraum zu entlasten. Ulrike SCHERF sieht sowohl in den urbanen Räumen als auch in den ländlichen Regionen spezifische Integrationspotentiale. Mögliche Vorteile des Landes seien die bessere soziale Einbindung, das gute bürgerschaftliche Engagement vor Ort, Vereinsstrukturen, verfügbarer Wohnraum und viele Handwerker und Unternehmer, die den Geflüchteten Perspektiven für eine Beschäftigung bieten könnten. SCHELZKE unterstrich, dass natürlich auch Nachteile in den Flächenkommunen bedacht werden müssten, wie die großen Distanzen, Probleme der Daseinsvorsorge, unzureichender öffentlicher Personennahverkehr oder Strukturprobleme in der Breitbandversorgung.
Anreize schaffen: Beschäftigung, Bildung und Integration in die Gemeinschaft
Für SCHELZKE ist die Werbung um Zuwanderung für ländliche Gebiete eine der zentralen Herausforderungen der Regionalentwicklung. Vor Ort müsse die Integration stattfinden und Integration würde nicht über Zwang funktionieren und Zeit benötigen, so SCHELZKE. Daher plädiert der HSGB für die langfristige Stärkung ländlicher Gemeinden und für Vereinbarungen zwischen Land, Kreis, Kommunen und Geflüchteten über die Zuwanderung. Alle Beteiligten seien sich einig, dass es um die generellen Bedingungen von Beschäftigung, Bildung und Integration in die Gemeinschaft gehe. Hier sei besonders wichtig, dass die Kommunen, welche die Integrationsaufgabe schließlich umzusetzen haben, finanziell und fachlich nicht allein gelassen würden.
SCHELZKE machte darauf aufmerksam, dass jeder Euro, der für die Integration von neuen Zuwanderern im ländlichen Raum ausgegeben wird, eine Investition für die Zukunft ist und künftige soziale Kosten im Ballungsraum ersetzen wird. „Das Investieren in Menschen und ihren Fähigkeiten ist immer positiv!“, so SCHERF und SCHELZKE übereinstimmend.
Abschließend machten die stellvertretende Kirchenpräsidentin und der Geschäftsführer ihre jeweiligen Perspektiven für die Integration von Muslimen deutlich. Mit der Ankunft von vielen Geflüchteten sind auch kleinere und mittlere Kommunen in einer ganz neuen Weise mit interkulturellen und interreligiösen Fragestellungen konfrontiert. Hier eine angemessene Sprachfähigkeit im Dialog noch weiter zu entwickeln, ist eine wichtige Aufgabe, die Ulrike SCHERF für die evangelische Kirche sieht. Für die Kirchenvertreterin ist es wichtig, dass der gegenseitige Respekt vor religiösen und kulturellen Einstellungen nicht bloß gepredigt, sondern vorgelebt wird. Das schließt auch intensive Dialoge mit den neuen Zuwanderern über grundlegende Werte und gesellschaftliche Leitbilder mit ein.
Begegnungsmöglichkeiten, die gemeinnützige Beschäftigung von Zuwanderern, erste Zugänge zu Ausbildung und Arbeit, Ausbildungspatenschaften, interkulturelles Training für Entscheidungsträger, etc. - die Palette der Integrationsmaßnahmen ist groß, die von kirchlicher und politischer Gemeinde gemeinsam bearbeitet werden kann. Ulrike SCHERF und Karl-Christian SCHELZKE zeigten sich zuversichtlich, dass die Gemeinschaft der Bürgerinnen und Bürger vor Ort mitzunehmen ist, um sich mit den Migranten eine gemeinsame Zukunft im ländlichen Raum zu erarbeiten.