Engagiert für Flüchtlinge - Ein Netzwerk im Vogelsberg hilft vor Ort
Annähernd 150 Menschen haben am frühen Samstagabend den Weg ins Katholische Pfarrzentrum nach Alsfeld gefunden. Aus dem gesamten Vogelsbergkreis sind Freiwillige gemeinsam mit aus Afghanistan geflüchteten Menschen angereist.
Dreisprachig geht es im eng besetzten Pfarrsaal zu. Freiwillige, Geflüchtete mit Aufenthaltsstatus, übersetzen in Dari und Paschtu, die beiden afghanischen Landessprachen. Die Menschen sind verunsichert. Afghanistan gilt in Deutschland als sicheres Gebiet? Fachleute versuchen, die rechtliche Lage der Geflüchteten zu versachlichen und informieren ehrenamtliche Flüchtlingsbegleiter, worauf es im „Interview“ der afghanischen Flüchtlinge ankommt. Abschiebungen können sich die Fachleute höchstens im Einzelfall vorstellen.
Hilfseinrichtungen kooperieren…
Dass sich bei nur wenigen Tagen Vorlaufzeit 150 Menschen zu einem Infoabend eingefunden haben, verdeutlicht nicht nur die Verunsicherung der Afghanen. Es zeigt auch, dass im Vogelsbergkreis in den letzten Jahren eine Struktur aufgebaut worden ist, die schnell handeln und auf ein großes Netzwerk zurückgreifen kann. Seit den 1990er Jahren besteht eine kleine Gruppe von „pro Asyl“ in Alsfeld, die jeden Montag in den Räumen der katholischen Kirche geflüchteten Menschen Unterstützung anbietet: vom Ausfüllen behördlicher Formulare, über die Kündigung von überteuerten Mobilfunkanträgen bis hin zur Vorbereitung auf das entscheidende Interview beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Unterstützt werden die Freiwilligen von den Migrationsbeauftragten des Caritasverbandes. Doch auch dieser verfügt erst seit 2015 über eine halbe Stelle im Landkreis, die speziell Beratung geflüchteter Menschen leisten soll, das Diakonische Werk steuerte kurze Zeit später eine weitere halbe Stelle bei.
Als sich ab 2014 auch die Zahl der dem Vogelsbergkreis zugewiesenen Asylbewerber vervielfachte, gelang in mehreren Treffen die Einrichtung einer bürgerschaftlich-kirchlich-kommunalen Kooperation zugunsten der Geflüchteten. Dafür mussten die sieben Partner in einem ersten Schritt erst einmal gegenseitig ihre Kernkompetenzen wahrnehmen: Natürlich wusste z.B. die Volkshochschule um das Angebot im katholischen Pfarrsaal. Was dort genau geschieht, welches Spektrum dort bearbeitet wird, war den Bildungsexpertinnen aber nicht bekannt. Umgekehrt war den pro Asyl-Mitarbeitenden auch nicht geläufig, welches „Beiwerk“ ein Sprachkurs für Asylsuchende mit sich bringt. Der zweite Schritt war und bleibt schwieriger: Im Netzwerk zu denken, statt Freiwillige an die eigene Institution zu binden. Freiwillige binden sich heute eher an eine Aufgabe, die ihnen wichtig ist, als formell an eine Institution.
… in einem Netzwerk von Freiwilligen
Ausgangspunkt der Kooperation im Vogelsberg war im Sommer 2014 ein Qualifizierungsprojekt: Da verstärkt Asylsuchende dem Vogelsbergkreis zugewiesen wurden, benötigt man auch mehr Personen, die diese Menschen unterstützen können. Und diese Freiwilligen wurden nicht nur in den Kleinstädten Alsfeld und Lauterbach gebraucht, wo die Wohlfahrtsverbände und die Kreisverwaltung aufzufinden sind, sondern in jedem Dorf, in dem eine Gemeinschaftsunterkunft eingerichtet wird.
Das Netzwerk im Vogelsberg entwickelte ein Curriculum über 40 Unterrichtsstunden, das in die wichtigsten Felder der Asylarbeit einführt. Um einen möglichst hohen Grad an selbstbestimmter Freiwilligenarbeit zu erreichen, nehmen die Aktiven gern entsprechende Qualifizierungen wahr. Mit acht bis zehn Anmeldungen wurde vorsichtig gerechnet; bis Juli 2016 haben in inzwischen vier Kursen über 130 Menschen im Vogelsbergkreis die Qualifizierung durchlaufen.
Flüchtlingsbegleiter mit Zertifikat
In den sechs Ausbildungsabenden informieren sich die Teilnehmenden beispielhaft über Lebenssituationen, Fluchtursachen und Fluchterlebnisse. Sie lernen, den Weg eines Asylverfahrens mitzugehen und können unterschiedliche Formen des Aufenthaltsstatus unterscheiden. Sie wissen, welche Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gegeben sind und wann Geflüchtete in das ALG2 übergehen. Sie erfahren von Mitarbeitenden der Kreisbehörde, wie das Procedere beim Eintreffen der Geflüchteten aus der HEAE verläuft und wie weit (besser: wie kurz!) die Sozialarbeiter weiterhin für die Menschen da sein können. Sie können auch Auskunft geben, wie die örtlichen Tafeln funktionieren. Sie begegnen zahlreichen hauptamtlichen Kolleginnen und Kollegen: von Mitarbeitenden der Kreisbehörde über die Wohlfahrtsverbände bis hin zu Ansprechpartnerinnen bei Schulen und dem interkulturellen Beauftragten des Polizeipräsidiums. Zu jeder Fachfrage die Rufnummer einer Expertin, deren Gesicht und Stimme man kennt!
Ein Blockwochenende führt in ein Tagungshaus: An Fallbeispielen wird den Teilnehmenden dargestellt, wie sich Traumata und Gewalterfahrungen Geflüchteter zeigen können. Es wird eingeübt, wie weit (und auch hier besser: wie kurz!) Freiwillige helfen können und wann sie professionelle Kräfte aufsuchen müssen.
Hier ist auch Zeit nachzudenken, welche Rahmenbedingungen die Freiwilligen wünschen. Versicherungsschutz spielt da eine wichtige Rolle, aber auch ein guter Draht sowohl in die Kreisverwaltung als auch z.B. zu den Wohlfahrtsverbänden. Als ganz wichtiges Anliegen zeigt sich der regelmäßige, kollegiale Austausch.
Seit dem dritten Kurs in 2015 drängt eine weitere Frage in den Ausbildungsfokus: Freiwillige in der Unterstützung von Asylsuchenden werden gesellschaftlich nicht mehr ausnahmslos getragen, sie sind oftmals auch verbalen Angriffen ausgesetzt oder werden ausgegrenzt. Da ist es wichtig, dass die Teilnehmenden zu einer Selbstreflektion angeleitet werden, dass sie für sich und für andere auskunftsfähig sind darüber, warum ihre Arbeit wichtig ist.
Deswegen ist jetzt auch der Blick in die Zukunft der Dörfer in die Ausbildung integriert: Was passiert eigentlich auf 300-Seelen-Dörfern, wenn 30 Asylsuchende - zehn Prozent! - in eine Gemeinschaftsunterkunft einziehen und mancherorts die erste Migrantengruppe bilden? Welche Konflikte können aufbrechen und welche Lösungsmöglichkeiten bestehen? Auch dies wird in Fallbeispielen miteinander ausgehandelt.
Zusammenarbeit von Freiwilligen und Hauptamtlichen…
Dabei ist eine Qualifizierung sicher keine Voraussetzung, um in der Flüchtlingsarbeit aktiv zu werden. Aber die Kursabsolventinnen und –absolventen gehen reflektierter mit ihrem Freiwilligenengagement um.
Gute Freiwilligenarbeit bedarf einer ebenso guten Hauptamtlichen-Struktur. Neben kommunalen Ansprechpartnern und Stellen im Kreis haben auch die Kirchen personelle Ressourcen zur Verfügung gestellt. Seit 2014 verfügt die katholische Kirche im Vogelsbergkreis über zwei 0.25-Stellen als Freiwilligenmanagerinnen in der Flüchtlingsarbeit. Die im Vogelsberg deutlich stärker vertretene evangelische Kirche hat im Mai 2016 mit der Einrichtung von zwei 0.5-Stellen nachgezogen.
Diese bildet ein „backoffice“ für die Freiwilligen: Hierhin können Verwaltungsaufgaben abgegeben werden, hier erfährt man die Rufnummer des besten Ansprechpartners für die Detailfrage. Zugleich wissen die Freiwilligenmanagerinnen um die besonderen Kompetenzen der Freiwilligen: Sie wissen, welche Erfahrungen mit welchem Unterrichtsmaterial Deutsch als Fremdsprache gemacht werden, sie können bei Bedarf die Freiwilligen mit Traumata-Ausbildung für eine Hilfestellung vermitteln. Sie organisieren das Netzwerk für den kollegialen Austausch von – gleichwertig! – Hauptamtlichen und Freiwilligen und bieten regelmäßige Fortbildungen an.
…und Zusammenarbeit von Kommunalpolitik und Freiwilligen
Dass der Landrat oder der erste Kreisbeigeordnete gemeinsam mit dem Dekan persönlich die Ausbildungs-Zertifikate im Rahmen einer kleinen Feier überreicht, deuten die Freiwilligen klar positiv als Würdigung ihrer Arbeit.
Zusammenarbeit mit Freiwilligen gehört sicher nicht zum bisherigen Kerngeschäft in den Verwaltungen. So ist die Grundqualifizierung nicht gleich überall auf Gegenliebe gestoßen. Bringen Ungelernte nicht zu viel Unruhe in das Amt für Flüchtlingswesen und die Ausländerbehörde? Wer läuft da eigentlich künftig alles durch die Gemeinschaftsunterkünfte? Wie geht man mit Menschen um, über die man weder Fach- noch Dienstaufsicht hat?
Umgekehrt müssen die Freiwilligen lernen, dass die Verwaltungen in Kreis und Kommunen keine „Gegner“ sind, sondern schlicht Verwaltungsaufgaben ausführen müssen und dabei nur einen vergleichbar geringen Spielraum haben. Dass es ihnen auch nicht leicht fällt, wenn die Polizei manchmal aus Wartefluren heraus Abschiebungen vornimmt.
Da ist – trotz aller Übereifrigen auf beiden Seiten – inzwischen Vertrauen gewachsen. Und so erfährt die Träger-Kooperation der Flüchtlingsbegleiter-Ausbildung inzwischen auch schon einmal vorab, wo die nächsten Gemeinschaftsunterkünfte eingerichtet werden. Damit dort möglichst bald qualifizierte Freiwillige die geflüchteten Menschen und damit die Sozialarbeiter des Landkreises unterstützen können.
Ein Blick in die Zukunft
Die Vorzüge einer ländlichen Region erkennen Teenager und Twens nur selten – unabhängig ob Einheimische oder Geflüchtete. Und ein Großteil auch der Asylsuchenden gehört dieser Altersgruppe an.
Der Vogelsbergkreis wirbt zusammen mit seinen Kommunen um die Ansiedlung der Geflüchteten: Schotten richtet eine Stelle im Bundesfreiwilligendienst ein, die sich um Geflüchtete kümmern soll. Homberg sieht in der Arbeit mit Geflüchteten einen Schwerpunkt des kommunalen Familienzentrums; ein Minijob soll Geflüchtete in Praktika begleiten. Lauterbach verschafft einem Geflüchteten einen Job in der Stadtbibliothek. Denn alle wissen: Dieser unerwartete Zuzug kann den demografischen Wandel am Land, den Bevölkerungsrückgang und auch die „Unterjüngung“ ein klein wenig aufhalten. Auch die Freiwilligen haben erste Erfolge aufzuweisen: Der Eine begleitet einen jungen Syrer durch die Berufsschul-Prüfungen, die Nächste vermittelt einen Afghanen als Praktikanten in die KFZ-Werkstatt am Ort, der Dritte überzeugt den Allgemeinarzt von einem Praktikum des syrischen Kollegen aus der Gemeinschaftsunterkunft im Nachbarort.
Die Arbeit der Freiwilligen – und das wird häufig verkannt – hört nicht auf mit einem positiven Asylbescheid. Sie endet, wenn die Geflüchteten Perspektiven für sich sehen. Und dazu gehört mittelfristig Arbeit. Möglichst hier vor Ort, im Vogelsberg.